Title
Educating Ireland. Schooling and Social Change, 1700–2000


Editor(s)
Raftery, Deirdre; Fischer, Karin
Published
Extent
320 S.
Price
€ 41,15
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Ansgar Weymann, Institut für Empirische und Angewandte Soziologie, Universität Bremen

Bildungsgeschichte wird in der Regel aus nationaler Sicht geschrieben und Bildungspolitik gilt als nationale Angelegenheit. Internationale bildungspolitische Akteure treten zurück und auch internationale Vergleiche sind nach wie vor nicht selbstverständlich. Diese Eigenschaften treffen auch auf den von Deirdre Raftery und Karin Fischer herausgegebenen Band „Educating Ireland“ zu. Und dennoch ist es ein lohnendes Buch. Das liegt daran, dass bildungsgeschichtliche und bildungspolitische Publikationen von großen Ländern mit ihrer oft hegemonialen Geschichte dominiert werden. Kleine Länder wie Irland finden weit weniger Aufmerksamkeit, obwohl sie sehr interessant sein können. Im Fall Irlands lassen sich die omnipräsenten Spannungen zwischen nationaler Geschichte und kolonialer Politik am Fall des britischen Empire gut verfolgen. Die Wechselwirkungen zwischen hegemonialen und nationalen Kräften sind für die irische Bildungsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte konstitutiv. Das macht den vorliegenden Band nicht nur für Leserinnen und Leser mit spezialisiertem Interesse an Irland oder kleinen Nationen interessant, sondern auch für solche mit einem Interesse am Wechselspiel von globalen Kräften und nationalen Dynamiken auf dem Gebiet von Bildung und Bildungspolitik.

Der Band besteht aus elf Kapiteln, die in drei großen Abschnitten nach aufeinanderfolgenden historischen Perioden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert zusammengefasst wurden. Gleich im ersten Abschnitt stößt der Leser im Kapitel „The Irish Hedge School and Social Change“ (Antonia McManus) auf eine fremde Welt, geprägt vom scharfen Dauerkonflikt zwischen Engländern und Iren, Protestanten und Katholiken, Oberschicht und Armen, um es grob zu beschreiben. Hedge Schools sind Schulen ‚on the sunny side of the hedge‘, über lange Zeiten illegal, entstanden aus den Verfolgungen von Heinrich VIII über Cromwell und die Penal Laws bis zum House of Lords Committee gegen den Papismus (Popery). Hedge Schools werden von den Eltern finanziert, es lehren nichtprofessionelle Lehrer, die ihrerseits Junglehrer als Assistenten (Poor Scholars) ausbilden und in Konkurrenz zueinander stehen. Der katholische Ortspriester überwacht die Schulen. Dauerspannungen bestehen mit der protestantischen Kildare Place Society (KPS), die die Schulaufsicht ausübt. Im zweiten Beitrag, „Superior Schooling: The Legacy of the Endowed Schools Commissions (1791–1894) to Irish Education“ (Christopher McCormack), geht es um Aufstiegsschulen für die Mittelklassen in der Kolonie Irland, um die Vorherrschaft der englischen Gentry und der Irish Church. Bildungspolitik soll eine Massenkonversion der Katholiken erzeugen, verfehlt dieses Ziel aber. Die englische Grammar School ist Standardform der höheren Schulen. Immer neue Reformkommissionen sollen die Vorherrschaft der englischen Elite und die Einheit mit England sichern, später auch Aufstiegswege und Mindestschulstandards zur Befriedung der wachsenden irischen Mittelschicht. Jedoch werden die meisten Empfehlungen nicht umgesetzt, denn „[…] education always occurs within a political context, and for Ireland that context was a colonial one […]“ (S. 36). Das letzte Kapitel dieses Abschnitts, „Thomas Wyse and Non-Denominational Education in Ireland, 1830–1845“ (Tony Lyons) liefert Details am Fall des von Thomas Wyse ausdauernd, aber vergeblich unternommenen Versuchs, im Parlament Unterstützung für ein nichtkirchliches nationales Bildungssystem für Irland zu bekommen.

Im folgenden Abschnitt geht es vor allem um die Lehrtätigkeit von Frauen. „Irish Women and Elementary Education for the Poor in Early Nineteenth-Century Ireland“ (Eilís O’Sullivan) beschreibt die sehr beschränkten Möglichkeiten, neben der Rolle als Ehefrau und Tochter eine Existenz zu finden. Charity ist eine akzeptierte Ausnahme. Frauen konnten School-Patrons sein. In „The Museum of Irish Industry and Scientific Education in Mid-Victorian Ireland“ (Clara Cullen) geht es hingegen um die Volksbildungskampagnen des Museums ohne Zulassungsgrenzen nach Geschlecht, Klassen, Religion bis zur Umwandlung zum Royal College of Science for Ireland. Der Beitrag „The Nineteenth-Century Governess and Education in Ireland“ (Deirdre Raftery) beschreibt die Rolle der Gouvernanten. Es handelt sich hierbei in der Regel um Mittelschichtfrauen, die in englischen Oberschichthäusern arbeiten. Erst mit der allgemeinen Beschulung um die Wende zum 20. Jahrhundert verschwindet dieser Beruf. Eine weitere Nische untersucht das Kapitel „The Presentation Order and National Education in Nineteenth-Century Ireland“ (Catherine Nowlan-Roebuck). Der Presentation Orden ist ein Nonnenorden, im 19. Jahrhundert schnell gewachsen zu einem Verband privater Schulen für die Armen, geleitet vom „spirit of economy and industry“ (S. 137). Vermittelt werden Lesen, Schreiben, Rechnen, Geographie, Grammatik, Nadelarbeit und Stricken – ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Abstimmung mit dem National System.

Der letzte Abschnitt enthält Untersuchungen zu Bildungskonflikten nach der Unabhängigkeit Irlands im Jahre 1922. Wie das Kapitel „The Church of Ireland, the State and Education in Irish Language and Irish History, 1920–1950“ (Martina Relihan) herausarbeitet, brachte die Unabhängigkeit die einst mächtige Church of Ireland in eine schwierige Lage. Irland war nun gälisch, katholisch und nationalistisch. Irisch wurde Nationalsprache und Pflichtfach in den Schulen. Die Zahl der Schulen der Church of Ireland sank schnell, die Schülerzahl je Schule und Klasse schrumpfte häufig unter das Existenzminimum. Textbücher mussten national und katholisch sein, Lehrer hatten ein Staatsexamen zu absolvieren, das die irische Sprache einschloss. „The Modernisation of the Recruit Training and Education Policies of the Garda Síochána 1922–1985“ (Brian McCarthy) beschreibt die langwierige Umwandlung der englischen kolonialen Polizei zu einer irisch nationalen. Die neue Polizei rekrutiert zwar neues Personal, jedoch folgt dessen Ausbildung weiterhin dem Regime der bisherigen „Royal Irish Constabulary“. Erst in den sechziger Jahren kommt es zur Reform der Polizeiausbildung. In „The Implementation of the Greater Schools Co-operation Policy and Vocational Education Committees In 1960s Ireland“ (Marie Clarke) schließlich geht es um die Kooperation zwischen Sekundarschulen und Berufsbildungsschulen mit dem Ziel der Einführung eines gemeinsamen Abschlusses. Doch das Vorhaben scheitert an der lokalen Implementation. Das letzte Kapitel ist voller Skepsis. „When Education was Asked to Compensate for Society: Education for Change and Permanence in Northern Ireland in the 1980s” (Karin Fischer) beginnt mit einem Zitat von Basil Bernstein: „Education can not compensate for society.” (S. 215) Das Programm „Education for Mutual Understanding“ (EMU) zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Katholiken und Protestanten war ein Fehlschlag. Für EMU wurde zwar das Curriculum geändert, aber die alten Schulstrukturen blieben bestehen. Das Ziel, die eigenen Traditionen besser zu verstehen, um sich dadurch zur Gemeinschaft mit anderen zu bekennen, sei paradox und eine Illusion, die auf Unkenntnis von Schulrealität und Geschichte beruhe.

Thematisch und vom Material her sind die Kapitel heterogen wie so oft in Sammelbänden. Für den nichtirischen Leser ohne besondere Vorkenntnisse über das Land ist der politische, soziale, kulturelle Kontext nicht selten unbekannt und überraschend. Irland befindet sich in einem Zustand von krasser Armut und Unterwerfung bei fortlaufenden nationalen Widerständen. Die daraus hervorgehenden Zusammenstöße erstrecken sich bekanntlich bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Jedes Kapitel ist knapp eingeleitet und endet mit einer ebenso knappen Konklusion. Das ermöglicht auch dem eiligen Leser eine schnelle Information. Die thematisch weit gestreuten Kapitel tragen vielseitiges Material aus unterschiedlichen Quellen zusammen, bieten Überblicke wie Fallstudien. Das führt zu einer oft reizvollen, mosaikartigen Beobachtung und Beschreibung, aber auch zu einem relativ schwachen roten Faden. Das empirische Vorgehen ist in der Regel nur am Rande dokumentiert und auch theoretische Annahmen spielen eine geringe Rolle. So lassen sich die in Europa auf Bildung und Bildungspolitik stark einwirkenden Kräfte des neuzeitlichen Staates, des Nationalismus, gesellschaftlicher Klassen, Milieus und Interessengruppen, der Religionen und Kirchen, der Wirtschaft, Professionen, Wissenschaft und Presse zwar in den Beschreibungen wiederfinden, jedoch nur deskriptiv ohne den Versuch eines systematischen Erklärungsanspruchs.

Als Beobachtung, Beschreibung und Erzählung trifft der Band jedoch das Problem irischer Bildung und Bildungspolitik in seinem Kern. Noch 1907 ist Irland eine Kolonie. Grund und Boden gehören Engländern, die Wirtschaft ist Englisch, das Bildungssystem steht unter britischer Leitung. Irische Selbstverwaltung wird von England vehement abgelehnt. Die Times berichtet auf ihrer Titelseite: „The University Scheme Dropped. The government has definitely abandoned the idea of introducing an Irish University Bill the present Session of Parliament” (06.04.1907). Auf irischer Seite ist die Empörung groß, die Stimmung ist kriegerisch. “The Bishop of Limerick insists that the only way in which Mr. Birrell (Prime Minister, AW) and his Cromwellian colleagues can be brought to terms is by an open declaration of war against the British Government.” (05.10.1907).1 Dieser Krieg hat bis in die jüngste Gegenwart angedauert.

Anmerkung:
1 Siehe Ansgar Weymann, States, Markets and Education, Houndmills 2014, S. 106.

Editors Information
Published on
Contributor
Edited by
Cooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review